Freitag, 26. Mai 2017

Zaunreiterin


Früh morgens an der Schwelle zwischen Welt und Nichtwelt entstehen die Dinge. Bewegungslos, noch nicht entschieden, der Schritt nach vorne ins Unbekannte, oder zurück in die Sicherheit der Nichtwelt-Höhle. Dem neu entsprungenen Tag entgegengähnend verharre ich an der Grenze, blinzelnd zwischen Licht und Nichtlicht, der Zukunft entfliehend, der Traumreise erlegen, dem Tagtraum zugetan, doch auch hier noch keine Entscheidung. Schwellenmomente, heillos unterschätzt in ihrer Einzigartigkeit und voller Kraft als Geburtsstätte des Guten, des Bösen und aller Zwischenzustände. Unentschiedener Gleichstand, nicht drinnen, nicht draußen, nicht schlafend noch wach, nicht schauend, noch blind. Noch hat auch der Tag sich nicht entschieden, wie er mir begegnen möchte. Mit strahlendem Sonnenschein oder einem Weltuntergang, mit guten Nachrichten oder Langeweile, alle Möglichkeiten stehen offen. Als Zaunreiterin lausche ich den Dingen, achte auf die Zeichen. Vogelgezwitscher und kühle Luft dringen durch das gekippte Fenster von der Welt in die Nichtwelt. Würde ich mich ewig in diesem Zustand treiben lassen, würde es dann einen Unterschied machen für die Welt da draußen? In der Nichtwelt bin ich körperlos, da ist es ganz einfach, zu sein. Doch da draußen,  da erwartet mich so viel. Da erwarte ich so viel. Ich warte lieber noch eine Weile mit meiner Entscheidung. An der Schwelle, zwischen Welt und Nichtwelt, zwischen Licht und Nichtlicht. Bin ich?

kranichschreie
dein gepackter koffer
im flur 

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VERÖFFENTLICHT BEI "HAIGA IM FOCUS"

  Veröffentlicht in der Oktober-Ausgabe von HAIGA IM FOCUS